Carmen in Zürich. Sehr zu empfehlen.

CARMEN IN ZÜRICH

Carmen, Georges Bizet (1838 -1875). Opéra-Comique in vier Akten. Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halévy, nach der Novelle «Carmen» von Prosper Mérimée.

 

Musikalische Leitung: Gianandrea Noseda, Inszenierung: Andreas Homoki, Carmen: Marina Viotti, Micaëla: Natalia Tanasii, Mercédès: Niamh O’Sullivan, Frasquita: Uliana Alexyuk, Don José: Saimir Pirgu, Escamillo: Łukasz Goliński, Le Remendado: Spencer Lang, Le Dancaïre : Jean-Luc Ballestra, Moralès: Gregory Feldmann, Zuniga: Stanislav Vorobyov, Philharmonia Zürich, Chor der Oper Zürich, Kinderchor der Oper Zürich, SoprAlti der Oper Zürich, Statistenverein am Opernhaus Zürich

Besuchte Vorstellung: 12. April 2024, Opernhaus Zürich
Musik: 5*****
Regie: 4****

Carmen in Zürich

Reizend an der Zürcher Neuinszenierung ist, dass es sich um eine Koproduktion mit der Opéra comique in Paris handelt, jenem Haus also, an welchem am 3. März 1875 die Uraufführung von Carmen in der Salle Favart stattfand, dass der Generalmusikdirektor des Opernhauses Zürich, Gianandrea Noseda, die musikalische Leitung innehat, was einen aus musikalischer Sicht zufriedenstellenden Abend verspricht sowie insbesondere das Rollendebüt von Marina Viotti als Carmen.

Im August 2022 konnte man die Waadtländerin Marina Viotti im kleinen Saal des Collège Sainte-Croix im schweizerischen Fribourg im Rahmen des dort stattfindenden «Festival du Lied» bei einem wunderbaren Rezital, in Begleitung des begnadeten Gitarristen Gabriel Bianco, mit Werken von Fauré, Piazzolla, Almarán Massenet und De Falla erleben. Hierbei wurde man gewahr, dass Frau Viotti, abgesehen von ihrer stupenden Technik, bereits die ganze Spannbreite des Ausdrucks und der interpretatorischen Tiefe besitzt, um eine vorzügliche Carmen abzugeben. Zu jenem Zeitpunkt wusste man noch nicht, dass ein Rollendebüt schon so bald und zudem in nächster Nähe stattfinden würde.

Carmen
CARMEN, Zürich. ©Monika Rittershaus.

Kurz gesagt, die Carmen der Marina Viotti, welche man im Opernhaus Zürich in der Inszenierung des Intendanten Andreas Homoki erleben durfte, ist absolut hinreissend. So zeigte sie schon in der Habanera eine Differenziertheit und Ausdruckskraft, welche diese so bekannte Melodie unerhört neuartig erscheinen liess. Herrlich waren auch ihre Phrasierungskunst, die Akzentuierung der Noten, die Kontrolle ihrer Atmung und ihre gesangliche Präzision, wie beispielsweise bei «Près des remparts de Séville» oder bei «Les tringles des sistres tintaient». Ganz wunderbar war, wie Marina Viotti die Impulse aus dem Orchester aufnahm und den Eindruck einer Einheit, eines gemeinsamen Musizierens, entstehen liess.

Der Don José von Saimir Pirgu erinnerte bei seinen emotionalen Ausbrüchen mit lauten Spitzentönen eher an einen Cavaradossi. Insbesondere in seiner grossen Arie « La fleur que tu m’avais jetée» liess er den Gebrauch der voix mixte vermissen und schien etwas auf der spinto-Seite. Im Laufe des Abends hatte man wiederholt den Eindruck, dass er die schönen Impulse aus dem Orchester nicht durchgehend wahrnahm; so wirkte auch seine gesangliche Linie etwas unstet und hinterliess den Eindruck einer gewissen Pauschalität, was möglicherweise auch seiner grossen Routine in der Rolle geschuldet sein könnte.

CARMEN
CARMEN, Zürich. ©Monika Rittershaus.

Natalia Tanasii in der Rolle der Micaëla, mit ihrem flackernden Vibrato etwas an Mady Mesplé erinnernd, jedoch mit kräftigerem Kern, sang ihre Aria «Je dis que rien ne m’épouvante» auf sehr berührende Weise, wobei sie im Duett mit Don José im ersten Akt noch etwas reserviert wirkte. Łukasz Goliński, in der Rolle des Escamillo, zeigte eine solide Leistung, wobei die Textverständlichkeit etwas approximativ war. Die Stimme klang italienisch kräftig, sehr gut passend zu einem Padre Germont, hinterliess jedoch in der Gestaltung einen etwas eindimensionalen Eindruck.

Ein grosser Höhepunkt der Aufführung war das Quintett «Nous avons en tête une affaire», welches auf mitreissende Weise, mit viel Witz und Spielfreude vorgetragen wurde. Niamh O’Sullivan in der Rolle der Mercédès, Uliana Alexyuk als Frasquita, Spencer Lang als Le Remendado, Jean-Luc Ballestra als Le Dancaïre und Marina Viotti verstanden sich äusserst gut und hatten sichtlich Spass. Gregory Feldmann in der Rolle des Moralès und Stanislav Vorobyov in der Rolle des Zuniga ergänzten das Ensemble.

Die Inszenierung von Andreas Homoki war durchaus interessant und schien nur auf den ersten Blick weit entfernt von der ursprünglichen Handlung. So begann der erste Akt zur Zeit der Uraufführung 1875 und spielte nicht in Sevilla, sondern in Paris, und zwar auf der Bühne der Opéra comique. Akt um Akt arbeitete man sich zeitlich weiter vor, sodass der letzte Akt in der Gegenwart stattfand. Der gesamte Chor (inklusive exzellentem Kinderchor der Oper Zürich und SoprAlti der Oper Zürich) versammelte sich  im letzten Akt vor einem Fernseher, um auf ansteckende, mitreissende Weise das «Les voici! Les voici!» zu singen (Choreinstudierung: Janko Kastelic). Auch dies ein grosser Höhepunkt der Oper, da exzellent gesungen. Selten hat man einen Opernchor dermassen ausgelassen tanzen und sich amüsieren sehen. Lebensfreude pur. Die im ersten Akt gezeigten Kostüme waren sehr ästhetisch, elegant (Kostüme: Gideon Davey), da um das Jahr 1875 angesiedelt, und liessen spontan an eine traditionelle Inszenierung der Traviata denken. Das Bühnenbild von Paul Zoller, die Bühne der Opéra Comique von 1875 zeigend, war einnehmend und beeindruckend. Man konnte realistische Backsteingemäuer und verschiedene schöne Vorhänge erblicken, welche eine festliche Atmosphäre entstehen liessen, zu welcher auch die sehr stimmungs- und effektvolle Beleuchtung (Lichtgestaltung: Franck Evin) beitrug. Die Verbindung zur ursprünglichen Geschichte von Carmen mag auf den ersten Blick nicht logisch erscheinen, wird jedoch verständlich, wenn man sich anhand des Programmhefts mit der Geschichte der Opéra comique auseinandersetzt und dabei erfährt, dass in den Akten auf verschiedene bedeutende Momente in der Geschichte des genannten Hauses Bezug genommen wird.

CARMEN
CARMEN, Zürich. ©Monika Rittershaus.

Generalmusikdirektor Gianandrea Noseda und die Philharmonia Zürich (in Höchstform!) haben die Partitur wunderbar durchleuchtet und unzählige Stellen der Musik auf bezaubernde, transparente Weise herausgearbeitet. So entdeckte man traumhafte kammermusikalische Stellen bei den Streichern, feine Melodien bei den Bläsern, beispielsweise bei Fagott, Klarinetten und Hörnern, eine fabelhafte Behandlung der Dynamik sowie wunderbare Nuancierungen und Schattierungen. Dies kam geradezu einer Neuentdeckung des Orchesterparts gleich, was allein schon den Besuch dieser besonderen Carmen lohnt.

Sehr zu empfehlen.

Christian Jaeger

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Christian Jaeger

REVIEWER

Christian Jaeger has a passion for the operas of 19th-century Italian composers, is always amazed at how innovative Gluck and Cherubini sound, and loves repertoire companies.

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