Regie: 4****
Musik: 4****
KÖNIGSKINDER
Kinder an die Macht
Im Theater Münster hatte die Oper „Königskinder“ von Engelbert Humperdinck Premiere
Dem Theater Münster ist es mit Aachen und Wuppertal zu verdanken, dass Engelbert Humperdincks Märchenoper Königskinder ab den 1980er Jahren dem Todeschlaf entrissen wurde. Im Jahre 1910 an der Metropolitan Opera New York mit immensem Erfolg uraufgeführt, war das Werk auch in Europa direkt ein Kassenschlager. Mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges änderte sich das schlagartig: Die Opern deutscher Komponisten wurden außerhalb des Kaiserreiches von den Spielplänen verbannt. Geraldine Farrar, die wunderschöne Primadonna der Metropolitan Opera, hatte bei der Uraufführung eine der Titelrollen gesungen, dafür extra eine Gänseherde dressiert und machte sich dafür stark, dass die Oper ab 1918 wieder im Repertoire aufgenommen würde. Vergebens. Und auch in der Weimarer Republik fuhr der zynische Zeitgeist der 1920er Jahre dem feinsinnigen Jugendstilwerk allzu schneidend ins Gesicht. Mit Königen wollte man nichts mehr zu tun haben. Die Nationalsozialisten sorgten für eine Renaissance, indem sie die Königskinder als „echte deutsche Volksseelen“ vermarkteten, tilgten dabei die jüdische Librettistin Elsa Bernstein aus den Programmheften und setzten die Oper dann 1943 doch auf den Index. Aus Angst vor revolutionärem Gedankengut.
Damit hätte sich das Märchenspiel eigentlich perfekt angeboten für die Nachkriegszeit, doch die deutschtümelnde Marketingstrategie der Nazis war noch in den Köpfen und Jugendstil galt sowieso als Kitsch. Zaghaft setzte Münster im Jahre 1988 Königskinder auf den Spielplan. Gleich dem bundesweiten Fanal der Wirtschaftswunderzeit, Bauten aus der Kaiserzeit den Stuck abzuschlagen, hatte Regisseur Frank-Bernd Gottschalk im nachhinkenden Gehorsam die Partitur grob zusammengestrichen.
Erneut eine Münsteraner Pioniertat
2024 nun, wo das Werk wieder erfolgreich über die Bühne des In- und Auslandes geht, spielt es auch Münster in voller Länge. Doch wagt die Stadt des Westfälischen Friedens erneut eine Pioniertat dabei: Regisseurin Clara Kalus verneigt sich allem Regietheater zum Trotz und dankenswerterweise vor der deutschen Romantik. Sie inszeniert das traurige Kunstmärchen von dem verkannten königlichen Idealistenpaar nicht in einer U-Bahnstation, wie es das Musiktheater im Revier tat, auch nicht in einem Versuchslabor wie die Oper Zürich oder einem Treppenhaus wie die Semperoper und schon mal gar nicht in einem Fußballstadion wie die Festspiele Erl oder vor eintöniger Wand wie das Teatro San Carlo in Napoli, das Münchener Nationaltheater, die Oper Amsterdam und die Oper Frankfurt. Nein, sie hat sich von Bühnenbildner Dieter Richter, den im Libretto detailliert beschriebenen Zauberwald tatsächlich auf die Bühne bauen lassen, was beim Aufgehen des Vorhangs beim Publikum ein Ah! und Oh! hervorrief.
Auch die Kostüme von Carola Volles halten sich an die Vorgaben von Elsa Bernstein. Sie sind in der Tat „mittelalterlich phantastisch“ und die Gänsemagd darf sogar lange blonde Haare haben. Von den Menschen abgeschirmt lebt sie in dieser Märchenwelt und verliebt sich folgerichtig in den Königssohn, der sich aufgemacht hat, das Leben kennenzulernen.
„Nicht in Maulwurfshügeln ducken“
Den 2. Akt lässt Kallus allerdings nicht in einer mittelalterlichen Stadt, sondern in einem mit Tapeten der 50-er Jahre überklebten Jugendstilsaal und in Kostümen des New Look spielen. In dieser, heute als Inbegriff der Spießigkeit geltenden, satten und verdrängenden Wirtschaftswunderzeit, sind Idealisten zum Scheitern verurteilt. Zumal wenn sie regelrecht durch die Wand brechen, den Fernseher zur Explosion und das Volk (vergeblich) zur Reflexion bringen.
Die verbannten Königskinder sterben in zum Müllabladeplatz verkommenen Winterwald und die „letzte Generation“ macht sich durch den Zuschauerraum nicht nur auf, selber königlich zu werden, sondern fordert auch uns mit dem gläubig wiederholten Schlussgesang auf, „nicht in Maulwurfshügeln zu ducken“. Denn, so erklärt das Inszenierungsteam völlig richtig den damals wie heute revolutionären Grundgedanken von Bernstein und Humperdinck: „Weder seine Herkunft noch seine Thronfolge oder Erbrecht, sondern das ethische, moralische Verhalten […] die Fähigkeit zur Empathie und auch zur Selbstkorrektur“ […] macht den Menschen „wirklich zu einem edlen Menschen“.
Plüschgänse: ein Fehler
Es ist wohltuend, dass das Team diese Botschaft in poetischen Bildern rüberbringt. Freilich, die Plüschgänse im naturalistischen Waldbild sind ein Fehlgriff. Da wünscht man sich dann doch lebendes Federvieh wie früher auf die Bühne oder zumindest watschelnde Attrappen wie in Münster Anno 1988. Auch sonst gibt es immer mal Brechungen, wie wenn die Königskinder zum Beispiel anstelle zu fliehen, sich erst dem Liebesakt hingeben wollen. Verständlich, was die Regisseurin sagen möchte, aber es passt nicht zum Text und schon gar nicht zur Partitur, ist im Vergleich zu der ansonsten sehr feinfühligen und die Charaktere ernst nehmenden Regie ein Ausreisser. Auch, dass die Königskinder nicht vertrieben werden, sondern am Ende des 2. Aktes im Vordergrund liegen bleiben, passt nicht.
Unablässig strömende Melodienfolge
Die musikalische Seite ist in Münster gut bis sehr gut. Henning Ehlert dirigiert das Sinfonieorchester Münster sicher durch die unablässig strömende Melodienfolge der Meisterpartitur Humperdincks. Und wenn er ein bisschen mehr Verve in den Tanzszenen des 2. Aktes sowie die Celesta unter dem Lindenbaum noch ein wenig mehr betont, dann ist die Sache komplett rund.
Garrie Davislim und Anna Schöck verkörpern das tragische Liebespaar anrührend und glaubhaft. Der Königssohn hat eine immens schwere Partie zwischen lyrischem und Heldentenor zu bewältigen. Davislim gelingt die Entwicklung vom verwöhnten Palastbengel zum gefühlssaadligen Herrscher nicht nur gesanglich, sondern auch darstellerisch. Anna Schoeck schafft die Verwandlung von der verträumen Gänsemagd zur heroisch liebenden Königstochter ebenfalls mit Bravour. Wie sie im 3. Akt immer wieder versucht den Königssohn zu trösten, die Müllsäcke nach warmer Kleidung durchwühlt, ihm dann schließlich wissend das vergiftete Hexenbrot reicht, beide dann in Visionen wegdämmern, das geht unter die Haut. Da steht die Zeit still.
Die die Tragödie beschleunigende Hexe ist nicht die von Humperdincks Hänsel und Gretel, sondern eine menschenverachtende Außenseiterin. Violetta Hebrowska meistert dabei sowohl die verbitterten als auch die warmherzigen Töne. Und auch hier geht es unter die Haut, dass sie, obwohl Offstage auf dem Scheiterhaufen verbrannt, im 3. Akt noch einmal im Schein von an Allerheiligen gemahnenden Friedhofslaternen auftreten darf.
Johan Hyunbong Choi singt den Spielmann mit warmen Bariton. Er ist als Künstlernatur ebenfalls ein Außenseiter der Gesellschaft, hat sich aber im Gegensatz zur Hexe die Menschenliebe bewahrt. Sein Schlussgesang, in dem er die vermeintlich letzte Generation beauftragt, gleich einer Orgel das Lied von Liebe und Gerechtigkeit in der Welt anzustimmen, hallt noch lange nach. Unter der weiteren Sängerschaft stechen mit ihrem textverständlichen Vortrag vor allem Gregor Dalal als grobschlächtiger Holzhacker, Lars Hübel als die Zeit nicht mehr verstehender Ratsältester sowie Cosima Berger und Elisabeth Quick als aufbegehrende Besenbinderkinder heraus. Das Gleiche gilt auch für die stimmlich gewaltigen Torwächter von Hyung Hee Park und Sven Bakin.
Melanie Spitau setzt als kokette, liebestolle Wirtstochter spitze und komische Akzente. Der Besenbinder von Youn-Seong Shim, der Wirt von Kihoon Yoo und die Stallmagd von Soyean Lee hadern ein wenig mit der lautmalerischen Sprache von Elsa Bernstein, gestalten ihre Rollen aber dennoch mit schönem Stimmmaterial. Nicht genug gelobt werden kann der Kinderchor des Gymnasium Paulinum unter der Leitung von Margarete Sandhäger und Rita Stark-Herbst sowie der hervorragend einstudierte Opern- und Extrachor des Theaters Münster unter Anton Tremmel.
Zu Recht gab es lang anhaltenden Jubel und Beifall bei der Premiere für alle Beteiligten.
Christoph G. Molitor
Hervorragende Kritik die zum Besuch motiviert.
Hatte gehofft, eswäre nach dem 1. Akt so schön weiter gegangen. Leider wurde es dann sehr modern.
Wäre mir ehrlich gesagt, auch lieber gewesen. Aber ich war schon ausgesöhnt, weil der 1. Akt so Märchenhaft erzählt wurde.