IOLANTA
Iolanta von Pjotr Il’yich Tchaikovsky. Lyrische Oper in einem Akt. 1891. Libretto von Modest Il’yich Tchaikovsky, nach dem Theaterstück Kong Renes Datter (König Renés Tochter) von Henrik Hertz. Uraufführung am 18. Dezember 1892 im Mariinsky-Theater in St. Petersburg. Besucht am 18. April 2022, Festspielhaus, Baden-Baden.
CONDUCTOR Kirill Petrenko; Berliner Philharmoniker; IOLANTA Sonya Yoncheva; RENÉ, KING OF PROVENCE Mika Kares; COUNT VAUDÉMONT Liparit Avetisyan; ROBERT, DUKE OF BURGUNDY Andrey Zhilikhovsky; IBN-HAKIA Michael Kraus; MARTA Margarita Nekrasova; BRIGITTA Anna Denisova; LAURA Victoria Karkacheva; ALMÉRIC Dmitry Ivanchey; BERTRAND Nikolay Didenko; Slowakischer Philharmonischer Chor
Musik: 4,5*
Der Auftritt von Anna Netrebko bei den Osterfestspielen in Baden-Baden wurde frühzeitig abgesagt und die Zusammenarbeit mit Stardirigent Gergiev „bis auf weiteres“ ausgesetzt. Die diesjährigen Osterfestspiele im wunderschönen 1845 erbauten und 1977 stillgelegten Bahnhof der Stadt standen nicht nur im Zeichen russischer Musik, sondern waren auch politischer als in den Jahren zuvor. So spendete Kirill Petrenko selbst 100.000 Euro den vom Krieg in der Ukraine betroffenen Menschen und startete zusammen mit dem Festspielhaus und den Berliner Philharmonikern eine Sammelaktion für die UNO-Flüchtlingshilfe, deren Botschafter das Orchester seit September 2021 ist. Gleichzeitig warnte sein Chefdirigent, als Sohn einer jüdischen Familie 1972 in Omsk geboren und somit selbst Russe, davor, russische Künstler zu boykottieren.
Nach der zuvor bereits gefeierten Pique Dame-Aufführung wurde am Ostersonntag konzertant die im Jahr zuvor entstandene lyrische Oper Iolanta (Jolanthe), ebenfalls mit einem Libretto seines jüngeren Bruders Modest Tschaikowski, aufgeführt.
Die Handlung
Ein König verschweigt seiner von Geburt blinden Tochter deren Herkunft und Behinderung. Diese spürt, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Als sie im Schlossgarten einschläft, lässt ihr Vater sie von einem Arzt untersuchen, der eine Heilung nicht ausschließt, aber zur Bedingung macht, Iolanta müsse über ihre Krankheit informiert werden und die Gesundung selbst wollen. Das lehnt der König zuerst ab. Am Abend verirren sich zwei Ritter, Robert, Herzog von Burgund, dem Iolanta als Braut versprochen ist, und sein Waffengefährte, Graf Vaudémont, in den Garten. Vaudémont verliebt sich sogleich in die Prinzessin, ohne zu ahnen, wer sie ist und bittet sie, ihm eine rote Rose zu pflücken. Als sie ihm wiederholt statt einer roten nur weiße Rosen reicht, klärt er sie entsetzt auf. Später bittet er den König um ihre Hand. Da trifft es sich gut, dass der ursprünglich Auserwählte längst in eine andere, Mathilde, verliebt ist. Gerne verzichtet er, die OP verläuft erfolgreich und Iolanta und Vaudémont können heiraten.
Durchs Dunkel ins Licht
Die Oper ist viel mehr als ein Märchen mit Happy End, sie ist Betrug und Lüge gegenüber einer Person, wenn auch mit guter Absicht. Iolanta wird bewußt ihr Erwachsenwerden verweigert. Spielen darf sie mit ihren Gefährtinnen, eingesperrt in einen Garten. Die wahre Welt wird ihr vorenthalten. Sie soll Kind bleiben, ahnungslos und uninformiert. In der Psychologie gilt das Auge als Spiegelbild der Seele. Augen und seelisches Befinden sind miteinander verknüpft. So ist Iolanta auch in ihrer inneren Welt eingeschlossen.
Die Festspiele schreiben auf ihrer Homepage von „Seelenspielen“ und der Oper als einem „Fabergé-Ei, bezaubernd, unbezahlbar.“ Das trifft an diesem Abend zu, weil die Bulgarin Sonya Yoncheva mit allen Nuancen der Farbpalette ihrer Stimme begeistert. Erst traurig-unsicher, kindlich-unwissend, dann pudrig, warm, weich, verzweifelt, sanft, tiefdunkel, markant, leuchtend, kraftvoll und am Schluss glücklich befreit, singt sie sich durch ihre Rolle.
Allein stimmlich überträgt sie die starke Emotionalität, so dass es keiner szenischen Interaktion und keines Bühnenbildes bedarf. Die 1981 geborene Sopranistin ist auf ihrem Höhepunkt. Obwohl sie zum Großteil aus Noten singt, überkommt den Besucher eine Gänsehaut, als sie erfährt, dass Augen nicht nur zum Weinen da sind. Wir spüren ihre Angst, als sie sich ohne den maurischen Arzt (stimmgewaltig-grandios: Michael Kraus), der sie operiert hat, nicht in die ihr neue Welt traut. Liparit Avetisyan als Vaudémont nimmt man Verliebtheit und Entsetzen gleichermaßen ab. Die gesamte Besetzung ist ein Glücksfall. Besonders hervorzuheben sind Mika Kares als König und Iolantas Vater, Andrey Zhilikhovsky als Robert, Herzog von Burgund und Margarita Nekrasova mit ihrem außergewöhnlich facettenreichen und voluminösen Mezzosopran und ihrer Bühnenpräsenz. Ein Highlight ist auch der Chor, die Sängerinnen links, die Sänger rechts aufgestellt.
Gemeinschaftswerk zweier sich liebender Brüder
Modest Tschaikowski hat kleinere Änderungen an Henrik Hertz lyrischem Drama König Renés Tochter, welches die Vorlage der Oper lieferte, vorgenommen, um die Handlung verständlicher zu machen. Ein Happy End war untypisch in der Oper des 19. Jahrhunderts und bei Tschaikowski, doch privat war er in dieser Zeit sehr verzweifelt. In seiner geschlossenen Ehe, die von seiner Homosexualität ablenken sollte, eine Katastrophe zu dieser Zeit, wurde er noch unglücklicher und so sehnte er sich nach Glück zumindest in seiner Musik.
Die Dunkelheit wird durch Bläser dargestellt, zu Beginn gibt es keine hellen Streicher. Seelenmusik, ein Englischhorn, absteigende Chromatiken, die Musik hat keinen Zielpunkt, sie geht immer weiter in ihrer Traurigkeit. Das Fagott steigert die Spannung. Hohe Streicher und Harfenklänge setzen ein, wenn Iolanta auftritt. Das Licht steht als Synonym für die Liebe. Der Vater versucht ihren Heilungswunsch (wie kann sie etwas wollen, wovon sie nichts weiß und was sie nicht kennt?) zu verstärken, indem er vortäuscht, den Mann, der ihr zu gefallen scheint, zu töten, wenn sie nicht der OP zustimmt oder diese misslingt. So fördert er ihre intrinsische Motivation. Am Ende der Oper besingt Iolanta die zauberhafte Welt. Es freuen sich alle und loben Gott. Tschaikowski war am Ende seines Lebens religiös. Knapp ein Jahr nach der Uraufführung starb er.
Die Berliner Philharmoniker spielen an diesem Abend unter ihrem Dirigenten frei, kraftvoll, dabei sehr nuanciert, ganz konzentriert auf das Emotionale dieser Oper. Gleichbleibend auf allerhöchstem Niveau und mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit lassen sie so die derzeitige politische Situation für 100 Minuten vergessen.