TURANDOT: eine großartige Netrebko

TURANDOT in Verona

Giacomo Puccini. Dramma lirico in drei Akten. 1924. Libretto von Giuseppe Adami und Renato Simoni, nach dem Märchendrama von Carlo Gozzi. Uraufführung im Teatro alla Scala, Mailand, am 25. April 1926. Besuchte Vorstellung: 29. Juli 2021.

Turandot: Anna Netrebko
Calaf: Yusif Eyvazov
Timur: Riccardo Fassi
Liù: Ruth Iniesta
Pong: Marcello Nardis
Ping: Alexey Lavrov
Pang: Francesco Pittari
Mandarino: Viktor Shevchenko
Imperatore Altoum: Carlo Bosi
Principe di Persia: Riccardo Rados

Musikalische Leitung: Jader Bignamini
Leiter Bühneausstattung: Michele Olcese

Musik: 4****
Inszenierung: 4****

Volumen und Stahlkraft

Als Höhepunkt der diesjährigen Festspielsaison der Arena di Verona präsentierte Intendantin Cecilia Gasdia drei Vorstellungen von Giacomo Puccinis letzter Oper Turandot mit Anna Netrebko in der stimmlich äußerst anspruchsvollen Titelpartie. Erstmals stellte sich die Netrebko dabei den Anforderungen der ganzen Oper, nachdem bei ihrem Rollendebüt an der Bayerischen Staatsoper im Januar 2020, der von Franco Alfano komplettierte Schluss der Oper einer unseligen Inszenierungsidee zum Opfer gefallen war. Bei der glanzvollen Premiere in der Arena di Verona präsentierte sich die großartige russische Sängerin auf dem absoluten Zenit ihrer Karriere. Bei jeder Turandot muss man als Zuschauer eineinhalb Akte warten, bis die Sängerin der Titelrolle endlich singt – dementsprechend klirrend war bereits während des ersten Aktes die Spannung. Diese entlud sich dann auch bei Netrebkos stummen Auftritt vor der Hinrichtung des Prinzen von Persien mit spontanem Szenenapplaus. Als es dann endlich so weit war und die Netrebko die ersten Töne von “In questa reggia” in das gigantische Freilicht-Auditorium  schleuderte, wurde einem wahrlich bewusst, wie viele unbefriedigende Turandot-Interpretinnen man in den vergangenen Jahren  miterleben musste. Netrebkos wunderbare Stimme besitzt mittlerweile das Volumen und die Stahlkraft, welche die männermordende chinesische Prinzessin benötigt, andererseits hat sie trotz dieser Entwicklung ins dramatische Fach nichts von ihrem unverkennbaren samtenen Timbre und ihrer strahlenden Höhe eingebüßt.

Turandot
©Ennevifoto

Grosse Präsenz

So zeichnete Netrebko musikalisch und darstellerisch die mitreißende Entwicklung eines der wohl rätselhaftesten, wie auch widersprüchlichsten Charaktere der gesamten Opernliteratur. Dabei betonte sie auch stets die lyrischen, ja verletzlichen Momente der chinesischen Prinzessin “aus Eis”, etwa wenn Turandot bei ihrer Begegnung mit Liù im dritten Akt sich plötzlich auf die Gesangslinie, der sich opfernden Sklavin begibt und ungläubig “L’amore?” haucht. Grosse Präsenz bewies Anna Netrebko zudem in dem stimmlich extrem fordernden Schlussduett, wobei sie in dem oft beiläufig gesungenen Solo “Nel primo pianto” ihren Sopran noch einmal in seiner ganzen Schönheit frei fließen lassen konnte. Neben dieser außergewöhnlichen Interpretation hatten es die anderen Sänger naturgemäß schwer. Das galt vor allem für Yusif Eyvazov als sympathisch agierender  Calaf, der stimmlich durch die künstlerische und private  Partnerschaft mit Netrebko deutlich profitieren konnte. Das bekanntermaßen nicht sehr schmeichelhafte Timbre seines markanten Tenors konnte Eyvazov an diesem Abend über weite Strecken durch Abdunkelung erfolgreich kaschieren, wobei er sich stets um Dramatik, Gefühl und einen klugen Atemfluss bemühte. Beim “Nessun Dorma” trumpfte Eyvazov erwartungsgemäß  dann auch imposant auf – um dem jubelnden Publikum, die in der Arena di Verona sonst übliche Wiederholung dieser Arie zu verweigern.

Leicht nervös

Die Rolle der Sklavin Liù war Ruth Iniesta besetzt worden. Diese klang im ersten Akt noch leicht nervös und war damit beschäftigt ihr teilweise flackerndes Timbre in den Griff zu bekommen, allerdings steigerte sie sich im Laufe des Abends deutlich und fand in der von Puccini erschütternd angelegten Sterbens-Szene zu voller stimmlicher Größe, sodass diese Szene wahrlich berührte. Riccardo Fassi sang mit warmem und sonorem Bass einen berührenden und würdevollen Tatarenkönig Timur, Carlo Bosi begeisterte mit seinem Charaktertenor in der kurzen Rolle des chinesischen Kaisers Altoum. Mustergültig verkörperten Alexey Lavrov, Marcello Nardi und Francesco Pittari die drei Minister Ping, Pang und Pong, welche ihre Stellung zwischen der Commedia dell’Arte und menschlicher Tragik meisterhaft auf den Punkt brachten. Stimmgewaltig sang Viktor Shevchenko den Mandarino.

TURANDOT: eine großartige Netrebko
©Ennevifoto

Kein Regisseur genannt

Aufgrund der Corona-Pandemie hatte die Arena di Verona früh bekannt gegeben, dieses Jahr alle geplanten Opern in Neuinszenierungen zu spielen, welche sich mit den aktuellen Hygienestandards kompatibel zeigten. Das äußerte sich auch bei Turandot zum einen dadurch, dass der von Vito Lombardi exzellent einstudierte Chor in Konzertgarderobe auf den seitlichen Stufen der Arena-Bühne platziert war, während auf der Bühne selbst ausschließlich Statistenmassen und Tänzer agierten, zum anderen durch den Einbezug von Videoprojektionen, den es so an der Arena di Verona bisher nicht gab. Ein Regisseur, Bühnen- oder Kostümbildner wird weder auf dem Besetzungszettel noch in dem aufwändigen Programmheft genannt – es wird lediglich bekannt gegeben, dass das Bühnenbild in Kollaboration mit dem chinesischen Museum in Parma und die Projektionen durch die Künstlergruppe D-Wok entstanden war. Das stellt in der heutigen Zeit ein wohltuendes Novum dar – alles richtete sich auf die musikalische Seite des Abends, während die szenische ganz offiziell zurücktreten musste.

Spektakuläre, klassische Inszenierung

Und dennoch präsentierte die Arena di Verona eine spektakuläre, klassische Inszenierung ohne jegliche Abstriche, genau wie man es von diesem Ort erwartet. Am Pult des Orchesters dieser vielumjubelten Aufführung stand Jader Bignamini, welcher nach einem etwas verhaltenen ersten Akt, zu einer spannungsvollen, chinesisch gefärbten Interpretation fand, bei der Schlagzeug und Blechbläser markante Akzente setzten.

Trotz der Corona-bedingten Begrenzung des Publikums auf 6000 Zuschauer wirkte die Arena di Verona zum Bersten voll – dementsprechend zeigte sich am Ende der Jubel dieser dem am Vortag verstorbenen Tenor Giuseppe Giacomini gewidmeten Premiere.

Marco Ziegler

TURANDOT: eine großartige Netrebko
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Marco Aranowicz

EDITOR-IN-CHIEF

MARCO ARANOWICZ IS BASED IN ZURICH. HE IS GOING TO THE OPERA SINCE THE AGE OF TEN, AND HE LIVES FOR THE GREAT ITALIAN OPERA REPERTORY.

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Chris
Chris
2 Jahre zuvor

Besser kann man es nicht beschreiben. Netrebko ist wirklich großartig. Vielen Dank für diese Rezension.