La Bohème in Zeffirellis unvergänglicher Inszenierung

LA BOHÈME

La Bohème ist eine Oper in vier Bildern, komponiert von Giacomo Puccini. Das Libretto wurde von Luigi Illica und Giuseppe Giacosa nach dem Roman Scènes de la vie de bohème von Henri Murger verfasst. Die Uraufführung fand 1896 im Teatro Regio in Turin unter Arturo Toscanini statt. Trotz schlechter Kritiken nach der Uraufführung wurde La Bohème ein Welterfolg.

Conductor Eun Sun Kim; Staging and sets Franco Zeffirelli; revived by Marco Gandini; Costumes Piero Tosi; Rodolfo Freddie De Tommaso; Schaunard Alessio Arduini; Mimì Irina Lungu; Marcello Luca Micheletti; Colline Jongmin Park; Musetta Mariam Battistelli; Benoît/Alcindoro Andrea Concetti; Parpignol Hyun-Seo Davide Park; Sergente dei doganieri Giuseppe De Luca

Music 5*****
Direction 5*****

Zeitlos und frisch

Anlässlich des 100. Geburtstags von Franco Zeffirelli nahm die Mailänder Scala dessen weltberühmte und an zahlreichen Opernhäusern der Welt gezeigte Referenz-Inszenierung von Giacomo Puccinis Oper La Bohème auf. Was der im Jahre 2019 verstorbene Regisseur bereits 1963, damals unter der musikalischen Leitung von Herbert von Karajan und  mit Mirella Freni und Gianni Raimondi, auf die Bühne des berühmten Mailänder Opernhaus gebracht hatte, wirkt auch im Jahre 2023 noch so zeitlos und frisch, als sei die Premiere erst gestern gewesen. Und doch steht diese Inszenierung für 60 Jahre glanzvolle Operngeschichte. Gastspiele von Sängern wie Ileana Cotrubas, Lucia Popp, Angela Gheorghiu, Luciano Pavarotti, Giacomo Aragall, Piero Cappucilli und Rolando Panerai – um nur einige der großen Namen zu nennen – sind u.a. mit Carlos Kleiber am Pult bis heute im Gedächtnis vieler Opernfreunde präsent und verleihen Aufführungen dieser Inszenierung die ganz besondere Atmosphäre einer (fast) untergegangenen Opernepoche.

Zeffirelli siedelt seine Inszenierung in der durch das Libretto fest historisch verankerten Zeit im Paris von 1830 an – einer Epoche als Künstler, bedingt durch die gesellschaftlichen Umbrüche in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ihre Anstellungen bei Adeligen verloren hatten und deshalb erstmals unter bitterer Armut litten.

La Bohème
La Bohème. Photo: Brescia e Amisano ©Teatro alla Scala

So schildert die düster-detaillieret gestaltete Mansarde des ersten und vierten Aktes das harte Leben der vier jungen Künstler auf realistische Weise. Dabei wirkt die gedeckte Bühne durchweg akustisch äußerst günstig. Diesem Setting setzt Zeffirelli dann im zweiten Akt die fast überbordende Lebensfreude des weihnachtlichen Treibens im Quartier Latin mit seinen farbenfrohen Menschenmassen und Akrobaten auf der in oben und unten zweigeteilten Bühne entgegen, wobei sich das Café Momus im unteren Teil der Bühne befindet. Der dritte Akt, stellt in seiner verschneiten, trostlosen Poesie und den kunstvoll auf Gazevorhänge gezeichneten kahlen Bäumen in den linken Bühnengassen ein Wunderwerk der klassischen Theatermalerei dar, das bereits beim Aufgehen des Vorhangs Gänsehaut erzeugt. Piero Tosis genau an historischen Vorbildern entworfene Kostüme erfreuten in ihrer Detailverliebtheit die Augen und ergänzen die meisterhaften historischen Kulissen perfekt.

Aber auch musikalisch konnte diese wunderbare Nachmittagsvorstellung restlos überzeugen: Freddie De Tommaso spielte den Rodolfo mit großer Hingabe und Leidenschaft. Stimmlich zeigt der Sänger einen gut im Körper verankerten, dunkel timbrierten Tenor mit gleichzeitig viel Schmelz, der bestens in allen Lagen, insbesondere der Höhe, anspricht. So überzeugte er nicht nur in „Che gelida manina“, sondern auch im dramatischen großen Duett des dritten Aktes gemeinsam mit der wunderbaren Mimi von Irina Lungu, die zu Beginn der aktuellen Aufführungsserie auch als Musetta aufgetreten war.

La Bohème.
La Bohème. Photo: Brescia e Amisano ©Teatro alla Scala
La Bohème.
La Bohème. Photo: Brescia e Amisano ©Teatro alla Scala

Mit ihrem kräftigen, aber gleichwohl zu lyrischen Bögen und schöner Höhe fähigem Sopran ist sie der zarten Näherin Mimi zwar stimmlich schon fast entwachsen, überzeugte jedoch durch ihr intensives und berührendes Spiel mit der Darstellung dieser vielschichtigen, an der Schwindsucht sterbenden Frau, mit ihren Träumen von Liebe und Frühling. Markant gestaltete Luca Micheletti die Partie des Malers Marcello, mit elegant geführtem, farbenreichem Bariton, was die etwas undankbare Partie enorm aufwertete. Mariam Battistelli als Musetta, durfte bei ihrem ersten Auftritt bühnenwirksam aus  einer von Dienern gezogenen Kutsche aussteigen (auf Pferde hatte man aus Tierschutz-Gründen dankenswerterweise verzichtet) und gestaltete ihren berühmten Walzer mit „Quando m`en vo“ mit sinnlich-hell timbrierten Sopran. Bei dem den dritten Akt beschließende Quartett, mit dem zarten Abschied von Rodolfo und Mimi einerseits, und dem parallelen heftigen Streit zwischen Marcello und Musetta andererseits, kam ihr vielschichtiges Rollenportrait bestens zur Geltung. Alessio Arduini sang einen quirligen, schönstimmigen Schaunard, während Jongmin Park als Colline sich auf berührende Weise mit warm strömenden Bass von seinem Mantel verabschiedete. Andrea Concetti konnte sowohl als lüsterner bigotter Hausherr Benoit als auch als ältlicher „Sugar Daddy“ Alcindoro sarkastische Buffo-Akzente in die bittersüße Geschichte der Boheme miteinbringen. Das hochkarätige Ensemble wurde von Hyun-Seo Davide Park als Parpignol und Giuseppe De Luca als Sergente die Doganeri abgerundet.

La Bohème.
La Bohème. Photo: Brescia e Amisano ©Teatro alla Scala

Leidenschaftliche Interpretation

Der von Alberto Malazzi einstudierte Chor und Kinderchor bewiesen bei den Massenszenen mit ihren liebevoll einstudierten Details des zweiten Aktes grosse Spielfreude und Klangpracht, während der Frauenchor zu Beginn des dritten Aktes die bedrückende Atmosphäre eines kalten Wintermorgens musikalisch heraufbeschwor. Am Pult des temperamentvoll aufspielenden Scala-Orchesters sorgte Dirigentin Eun Sun Kim für eine leidenschaftliche und transparent musizierte Interpretation von Giacomo Puccinis Meisterwerk. Dabei wurden die heiter-spielerischen, wie auch die zutiefst schmerzlichen Momente des zutiefst berührenden Werks meisterhaft herausgearbeitet. So  schilderte sie mit dem absteigenden Flöten-Harfen-Motivs parallel zu einem Streicher-Tremolo am Beginn des dritten Aktes die eisige Kälte des Bühnengeschehens musikalisch auf eindrückliche Weise. Umso tröstlicher klang dagegen das Orchester bei den warmen Phrasen von «Ci lascerem alla stagion dei fior»!

Fazit: Ein wunderbarer Opernnachmittag, der entsprechend enthusiastisch vom Publikum gefeiert wurde und an dessen Ende viele in vielen Augen die Tränen flossen. Möge diese wunderbare Inszenierung dem Publikum noch viele solcher unvergesslicher Aufführungen ermöglichen!

  Marco Aranowicz

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Marco Aranowicz

EDITOR-IN-CHIEF

MARCO ARANOWICZ IS BASED IN ZURICH. HE IS GOING TO THE OPERA SINCE THE AGE OF TEN, AND HE LIVES FOR THE GREAT ITALIAN OPERA REPERTORY.

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Olivier Keegel
Olivier Keegel
1 Jahr zuvor

Very happy to „have“ such expert reviewers.