Norma

Norma

31.08.2025 Bern (Version 4.09.2025 um 7.51); Besuchte Vorstellung: 31. August 2025 (Première, konzertant), Stadttheater Bern

Tragedia lirica in zwei Akten; Musik von Vincenzo Bellini (1801-1835); Libretto von Felice Romani (1788 – 1865)

Musikalische Leitung: Andrea Sanguineti – Chor: Zsolt Czetner –  Norma: Nombulelo Yende – Pollione: Joseph Dahdah – Adalgisa: Simone McIntosh – Oroveso: William Meinert – Clotilde: Patricia Westley – Flavio: Giacomo Patti – Chor der Bühnen Bern –  La Banda Storica  

Musik: 5*
Szenische Umsetzung (konzertant): 5*


Norma

Einer der Gründe unseres Besuchs war die seltene Gelegenheit, Bellinis Norma zu erleben – dazu noch in einer konzertanten Aufführung, die den Fokus ganz auf die Musik legte. Man musste also nicht befürchten, die Priesterin könnte ihr Casta Diva in einer Waschküche, in einem Operationssaal oder auf einer schwarzen, leeren Bühne unter künstlichem Regen singen – womöglich noch mit einem Breakdancer im Hintergrund.

Der zweite Grund war die Möglichkeit, die Sopranistin Nombulelo Yende in der Titelrolle zu erleben. Dass sie das Casta Diva meisterhaft zu gestalten versteht, war bereits aus den sozialen Medien bekannt: Beim Internationalen Stanisław-Moniuszko-Gesangswettbewerb sorgte sie mit einer hinreissenden Interpretation dieser Arie für Begeisterung, die mit tosendem Applaus des Publikums, des Orchesters und des Dirigenten belohnt wurde. 2022 gewann sie dort den 1. Preis in der Kategorie „Frauenstimmen“, dazu den Publikumspreis sowie den Maria-Fołtyn-Preis. Zugleich versprach ihr Rollendebüt als Norma in Bern einen Abend von besonderer Intensität. Beide Erwartungen wurden nicht nur erfüllt, sondern weit übertroffen. Der Abend war übrigens restlos ausverkauft, zahlreiche Kartenwünsche konnten nicht erfüllt werden.

Zu hören war nicht das Symphonieorchester Bern, sondern La Banda Storica, das historische Orchester des Stadttheaters Bern – allerdings nicht mit Theorben oder Gamben, wie man sie vielleicht spontan mit historischer Aufführungspraxis verbindet, sondern mit Instrumenten der Frühromantik. Auf den ersten Blick wirkte das Ensemble überraschend gross, im Grunde so gross wie ein klassisches Symphonieorchester; die Bläser sassen jedoch nicht in der Mitte, sondern links. Abgesehen von der eben erwähnten Sitzordnung, Holzflöten und Kesselpauken fiel optisch wenig Ungewöhnliches auf.

Klanglich überraschte La Banda Storica mit eindrucksvoller Wucht und Kraft, verbunden mit bemerkenswerter Transparenz in den schnellen Passagen. Besonders schön war die herbe, charakteristische Farbe von Trompeten und Pauken. Weniger erfreulich waren gelegentliche Intonationsprobleme bei den Holzbläsern sowie Töne, die nicht sauber oder gar nicht ansprachen – doch dies liegt in der Natur solcher historischen Instrumente, die in Ansprache und Intonation äusserst heikel sind und besondere Übung verlangen.

Schon die ersten Takte machten deutlich, dass Andrea Sanguineti und La Banda Storica die Partitur mit grosser Sorgfalt erarbeitet hatten. Der Klang war transparent, schlank und zugleich voller dramatischer Wucht. Sanguineti setzte in seiner Interpretation spürbar auf Spannung und Tempo – und trug damit wesentlich zu einem kurzweiligen, fesselnden musikalischen Abend bei.

Als Operndirektor Rainer Karlitschek in seiner Einführung erklärte, man werde beim Gesang der Sopranistin Nombulelo Yende, die die Titelpartie der Norma sang, zu Tränen gerührt sein, nahmen wir dies zunächst nicht wörtlich. Doch Yende verfügt tatsächlich über eine Stimme, die tief berührt. Mehrfach während des Abends stellte sich Gänsehaut ein – und tatsächlich auch Tränen, erstmals während der berühmten Arie Casta Diva. Diese gestaltete sie rührend, rein und unschuldig: mit innigstem Pianissimo, perfekt geführtem Atem und fein ziselierten Koloraturen im Mittelteil ebenso wie in der Schlusskadenz. Besonders die makellos im Pianissimo ausgeführte, chromatisch abwärts führende Koloratur der Kadenz erinnerte in ihrer Zartheit an Montserrat Caballé – ein Effekt, wie man ihn heute nur noch selten erlebt. Hier offenbarte sich Yende als eine wahrhaft aussergewöhnliche Stimme.

Dieses gewisse Etwas – es war unüberhörbar da. Exquisit waren die geschmackvollen Variationen, die sie in der Wiederholung des Casta Diva einbaute – so noch nie gehört. Diese Interpretation war ein Höhepunkt des Abends, nach dem man bereits vollkommenzufrieden den Heimweg hätte antreten können. Umso verständlicher der überwältigende Applaus des Publikums – in Bern in dieser Spontanität und Intensität selten zu erleben.

Das „Ah! bello a me ritorna“ wurde in einem fast halsbrecherischen Tempo vorgetragen. Bis „E patria e cielo avrò“ gelang die Passage zwar einwandfrei, doch wirkte es so, als halte der Dirigent starr an seinem Tempo fest und die Sängerin müsse mit ihren Koloraturen hinterherrennen. Die Stelle nach „E patria e cielo avrò“ hört man selten in solch einem Tempo – sie wirkte etwas sportlich-gehetzt, beinahe wie die Schlusskoloraturen von „Non più mesta“.

Norma
Nombeulelo Yende

Glücklicherweise ging die Passage glimpflich aus. Diese Stelle zu singen ist ohnehin extrem schwierig; die Koloraturpartie wird nur selten vollkommen sauber bewältigt. Sehr schade fanden wir, dass die Cabaletta nicht wiederholt wurde – nur zu gerne hätten wir eine Variation von Frau Yende gehört. Auch entschied sie sich, am Schluss nicht ins hohe C hinaufzugehen. Zwar ist dieser Ton eigentlich gar nicht notiert, doch gerade im Belcanto lebt vieles von der Spannung, ob die Sängerin sich zu solchen Höhenflügen hinreissen lässt.

Umso grösser war die Überraschung als Nombulelo Yende am Ende des ersten Aufzugs (‚Vanne, sì, mi lascia indegna“) plötzlich ein gigantisches strahlendes hohes D einschob. Der Ton sass perfekt, blitzte mit einer fast laserhaften Klarheit und Intensität durch den Saal und hob das Dach des Stadttheaters beinahe aus den Fugen. In diesem Moment fühlte man sich unweigerlich an die hohen D’s einer Callas (z.B. die Mitschnitte aus Mexico City) oder einer Sutherland erinnert – Gänsehaut pur!

Joseph Dahdah als Pollione überzeugte mit einer klangschönen Stimme und einer rundum gelungenen Darstellung. Er gestaltete die Rolle des Pollione mit überzeugender Bühnenpräsenz und verlieh der Figur jene charismatische Ausstrahlung, die den Frauenhelden im Libretto so glaubwürdig macht. Dabei blieb seine Interpretation stets von belcantistischer Eleganz und einer perfekt geführten Linie geprägt. Besonders beeindruckend war die Wiederholung seiner Cabaletta „Me protegge, me difende“, die er mit einem strahlenden hohen B krönte. Technische Unsicherheiten waren zu keinem Zeitpunkt festzustellen – oder, wie man auf Englisch sagt: he nailed it.

Simone McIntosh wirkt auf den ersten Blick sehr jung und grazil, überraschte jedoch mit einer äusserst kräftigen Stimme von dichtem, klarem Kern – stellenweise an Fiorenza Cossotto erinnernd. Mit grosser Leichtigkeit wechselte sie ins Fortissimo und blieb in allen Lagen ausgewogen: eine eindrucksvolle Bruststimme, eine tragfähige Mittellage und eine strahlende, gesunde Höhe. Ihre Stimme erwies sich zudem als ausgesprochen koloraturfähig – keinerlei Schwierigkeiten in den schnellen Passagen oder in den exponierten Höhen des „

„Tu rendi a me la vita“ aus „Ripeti, o ciel, ripetimi sì lusinghieri accenti!“. Auch die Kadenz des „Ah, no! Giammai! Ah! No!“ vor dem „Mira, o Norma“ meisterte sie atemberaubend: technisch präzise, mit grossem Atem – und setzte sogar auf den Spitzenton noch einen höheren Ton obenauf, vielleicht ein D, bevor sie in einem technisch perfekten zweioctavigen Lauf in die Tiefe stürzte, vollkommen ohne Registerbruch. Wir sind sehr gespannt auf ihre weitere Entwicklung – es wirkt fast so, als könnte sie mit dieser Stimme alles singen, von Cenerentola bis Amneris.

Ein echtes Highlight, mit besonders grossem Applaus bedacht, war die an „Mira, o Norma“ anschliessende Cabaletta von Adalgisa und Norma „Sì, fino all’ore estreme“. Die beiden gestalteten die Wiederholung köstlich: zunächst sehr langsam, mit vielen Rubati und absolut synchron mit dem Orchester, dann in stetiger Steigerung des Tempos – bis sie schliesslich, anstelle der in der ersten Strophe gesungenen aufsteigenden Achtel, über ganze vier Takte hinweg hochvirtuose, aus Viertelnoten bestehende Koloraturen einbauten.

Norma

Das nenne ich Chuzpe! Gekrönt wurde dies von einem gigantischen, gemeinsam gesungenen hohen C. Das Publikum reagierte frenetisch und schien ein „Bis“ zu erwarten – doch leider ging es ohne Zugabe weiter. William Meinert als Oroveso verlieh der Partie mit profundem, sonorem Bass eindrucksvolle Autorität. Zugleich wirkte er als äusserst sympathischer Sänger von grosser Bühnenpräsenz – elegant, geschmackvoll in der Gestaltung und stets kultiviert im Ausdruck. Besonders das Zusammenspiel mit dem Chor gelang ihm überzeugend, sodass seine Auftritte zu echten Glanzmomenten des Abends wurden. Besonders mitreissend geriet „Ite sul colle, o Druidi, ite a spar ne’ cieli“ – hier liess sich hören, dass auch ein grossartiger Zaccaria in ihm steckt. Ebenso packend erklang „Guerra, guerra! Le galliche selve“: getragen von der Wucht des Chores, den präzisen Einsätzen der Solisten und nicht zuletzt vom Orchester, das in der Einleitung mit kraftvoll schmetternden und zugleich präzis artikulierten Trompeten glänzte.

Patricia Westley (Clotilde) und Giacomo Patti (Flavio) rundeten das ausserordentlich starke Ensemble ab. Der Chor der Bühnen Bern (Chorleitung: Zsolt Czetner) präsentierte sich erneut als präzises, klangstarkes Ensemble, das die Massenszenen mit fesselnder Energie und geschlossener Klangfülle gestaltete. Zwar wies Operndirektor Karlitschek in seiner Einführung darauf hin, dass der Chor vergleichsweise klein sei und daher nicht mit dem Festspielchor in Bayreuth zu vergleichen – ein Vergleich, der ohnehin hinkt, da die Häuser von sehr unterschiedlicher Grösse sind. Doch im Berner Theater wirkte der Chor klanglich so mächtig und präsent, dass man durchaus den Eindruck eines grossen Festspielchores hatte. Gerade in einem kleineren Saal entfaltet sich diese Kraft besonders unmittelbar – ein Effekt, den man in einem grossen Festspielhaus kaum so intensiv erlebt. So entwickelte das Ensemble eine erstaunliche Energie, mit machtvollen Ausbrüchen im Fortissimo ebenso wie im getragenen Gebetston, stets sicher geführt und eindrucksvoll im Gesamtklang.

nORMA

Die konzertante Form erwies sich an diesem Abend als Glücksfall: Ohne szenische Ablenkung rückten nicht nur die Musik, sondern auch die Worte ins Zentrum. Kein Stricken, Brotbacken, sich symbolisch Wunden zufügen, Pistolen an die Schläfe halten oder andere Regieeinfälle, die weder zur Handlung noch zum Text passen und meist nur irritieren – all das entfiel. So konnte Norma ihre volle Wirkung entfalten. Schon in den Pausen und später an der Garderobe war die grosse Begeisterung des Publikums spürbar. Immer wieder hörte man die Erleichterung darüber, keine überflüssigen Bühnenbilder oder irritierenden Regieeinfälle ertragen zu müssen, sondern die Grösse des Werks in seiner reinen musikalisch-dramatischen Gestalt erleben zu dürfen. Die Sängerinnen und Sänger überzeugten auch mit feinem Gespür für die darstellerische Seite ihrer Rollen – ob durch gezielte Anleitung oder spontane Inspiration bleibt dahingestellt. Entscheidend war: Jede und jeder stand mit grosser Präsenz und künstlerischer Glaubwürdigkeit auf der Bühne. Das Publikum zeigte sich restlos begeistert: Eine derart rasch aufbrandende stehende Ovation erlebt man selten – fast wirkte sie wie ein spontaner Flashmob. Jubel, Bravorufe und langanhaltender Applaus würdigten die herausragenden Leistungen aller Beteiligten.

Mit dieser Norma ist dem Stadttheater Bern ein Abend gelungen, der Massstäbe setzt –musikalisch von höchster Qualität, gesanglich glanzvoll besetzt und von einer Strahlkraft, die weit über Bern hinausreichen sollte. Ein Opernereignis, das man nicht vergisst.

Christian Jaeger

 
5 2 votes
Article Rating
Christian Jaeger

REVIEWER

Christian Jaeger has a passion for the operas of 19th-century Italian composers, is always amazed at how innovative Gluck and Cherubini sound, and loves repertoire companies.

No Older Articles
No Newer Articles
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest
0 Comments
Newest
Oldest Most Voted
Inline Feedbacks
View all comments