ROMEO AND JULIA
Charles Gounod (1818-1893). Drame lyrique in 5 Akten. Libretto von Jules Barbier und Michel Carré nach der Tragödie von William Shakespeare.
Romeo und Julia
Musikalische Leitung: Sebastian Schwab
Regie und Bühne: Éric Ruf
Szenische Einstudierung: Constance Larrieu
Choreografie: Glysleïn Lefever
Kostüme: Christian Lacroix
Licht: Betrand Couderc
Chor: Zsolt Czetner
Roméo: Ian Matthew Castro
Juliette: Inna Demenkova
Frère Laurent: Christian Valle
Stéphano: Evgenia Asanova
Mercutio: Jonathan McGovern
Comte Capulet: Matheus França
Gertrude: Claude Eichenberger
Tybalt: Michał Prószyński
Benvolio: Carlos Nogueira
Pâris: Andres Feliu
Grégorio: Christoph Engel
Duc de Vérone: Gerardo Garciacano
Frère Jean: David Park
Chor und Extrachor der Bühnen Bern
Kinderchor der Bühnen Bern
Berner Symphonieorchester
Besuchte Vorstellung: 5. November 2023, Stadttheater Bern
Musik: 5*
Regie: 5*
ROMEO UND JULIA
Bei der aktuellen Premiere von Charles Gounods Roméo et Juliette am Stadttheater Bern handelt es sich um eine Koproduktion der Opéra Comique Paris, der Opéra de Rouen Normandie, der Washington National Opera und des (optisch wie akustisch wunderbaren) Teatro Petruzzelli Bari, wobei von den genannten Opernhäusern das Stadttheater Bern mit 740 Sitzplätzen das kleinste und dieWashington National Opera mit 2,347 Sitzplätzen das grösste ist.
Die Berner Roméo et Juliette-Inszenierung ist optisch sehr einnehmend, beginnend mit dem kunstvoll drapierten Bühnenvorhang, dem sehr stimmungsvollen Bühnenbild (Éric Ruf, ebenfalls für die Regie zuständig) und den eleganten und geschmackvollen Kostümen vom gefeierten französischen Modeschöpfer Christian Lacroix, wobei Claude Eichenberger in der Rolle der Getrude das Glück zuteilwird, die schönste Robe des Abends zu tragen und hierin blendend aussieht.
Sehr beeindruckend und äusserst geschickt schaffte es Éric Ruf mit denselben Bühnenmodulen alle Akte der Oper darzustellen, inklusive einer librettotreuen Balkon- und Gruftszene. In der Balkonszene handelte es sich jedoch nicht um einen eigentlichen Balkon, sondern um einen furchteinflössend erhöhten Mauervorsprung ohne Balustrade, so dass man um die Sicherheit der eindeutig schwindelfreien Inna Demenkova in der Rolle der Juliette bangte. Die Handlung wurde durch Regisseur Éric Ruf vom Verona der Renaissance in eine süditalienische Stadt, möglicherweise die Altstadt von Syrakus und, den Kostümen nach zu beurteilen in die 50er Jahre, in ein mafiös angehauchtes Milieu verlegt. Dies wirkte sich jedoch auf die ursprüngliche Handlung nicht beeinträchtigend aus und liess den Handlungsverlauf widerspruchsfrei voranschreiten. Als einzige sinnfreie Momente sind die Szene mit den rauchenden Chorsängern zu nennen und vielleicht,dass Stephano, dargestellt von Evgenia Asanova, bei seiner Arie «Que fais-tu, blanche tourterelle» zunächst ein Kleid trug und sich dann Hosen anzog, wie dies die Rolle eigentlich vorsieht.
Das lebendige, spannungs- und detailreiche, die Handlung vorantreibende Dirigat von Sebastian Schwab und das leidenschaftliche, mitreissende Spiel des Berner Symphonieorchester waren ein Hochgenuss. Hierbei gilt es das präzis artikulierende Spiel der Bläser, insbesondere der Flöten/Piccolo (Zofia Neugebauer, Jonadabe Batista), die sehr gute Intonation sowie der warme, runde, die Ohren schmeichelnde Orchesterklang, z.B. in den gehaltenen Schlussakkorden, zu loben.Der durch Zsolt Czetner einstudierte Chor präsentierte sich musikalisch in Bestform.
Von höchster Güte, das präzise, akzentuierte Singen und die grosse dynamische Spannbreite. Auch darstellerisch zeigte sich der Chor von seiner besten Seite, was z.B. in den Festszenen oder in den von Glysleïn Lefever meisterhaft choreographierten Kampfszenen zugutekam. Inna Demenkova in der Rolle der Juliette verfügt über eine grosse lyrische, sehr koloraturfähige Stimme, welche in der Höhe eine beeindruckende Energie entfalten kann, so dass das man eine zukünftige Forza-Leonora herauszuhören glaubt. Ein erster grosser Höhepunkt war ihre schwungvolle Darbietung des «Je veux vivre», mit perfekt ausgeführten Trillern und einem gigantischen gehaltenen Ton gegen Ende der Arie. Insbesondere die im accelerando, äusserst synchron mit dem Orchester, ausgeführten Koloraturen waren hinreissend. Ian Matthew Castro in der Rolle des Roméo, in der Färbung seiner Stimme etwas an Anastasios Vrenios erinnernd, sang die Phrasen seiner grossen Arie «Ah! lève toi soleil!» mit einer wunderschön lyrischen Geschmeidigkeit, wobei ihm die Spitzentöne in der «Voix mixte» höhensicher gelangen, sodass er sich auf dem letzten hohen B sogar erlaubte, den Ton piano anzusetzen, um ihn dann anschwellen zu lassen. Grosse Klasse. Die Ausführung der vier grossen Duette liess nichts zu wünschen übrig und sie wurden, wie dies auch sein sollte, zu wahren Gänsehautmomenten des Abends. Wer Matheus França als düster-unheimlichen Grossinquisitor in Verdis Don Carlos erleben dürfte wird verblüfft sein, ob seiner grossen schauspielerischen Spannbreite, welche er an den Tag legt. So sang und spielte er die Rolle des Comte Capulet mit einer überraschend genüsslichen, ansteckenden Leichtigkeit und Freude.
Wie angegossen passt die Rolle des Frère Laurent dem Bass Christian Valle, in welcher er eine grosse Würde und emphatische Güte austrahlte, und man hätte Lust ihn als Padre Guardiano zu hören. Szenisch und klanglich sehr überzeugend der fesselnde Auftritt von Jonathan McGovern als Mercutio bei seiner “Ballade de la reine Mab”. Die Stimme von Evgenia Asanova, in der Rolle des Stéphano, klang, verglichen mit ihrer grossartigen Leistung 2022 in Bern als Romeo in Bellinis “I Capuleti e i Montecchi, an diesem Abend in ihrer Arie “Que fais-tu, blanche tourterelle” in der Höhe etwas unfrei und die Koloraturen etwas schwerfällig, wobei sie szenisch einen einnehmenden Eindruck hinterliess und die Capulets sich zurecht provoziert fühlten.
Eine Vorstellung am Stadttheater Bern ohne Claude Eichenberger ist kaumvorstellbar und in ihrer Darstellung der Gertrude als Figur, die zwischen ihrer Liebe zu Juliette und den gesellschaftlichen Erwartungen hin- und hergerissen sehrüberzeugend. Der kurze, jedoch einschneidende Auftritt des Duc de Vérone gelang Gerardo Garciacano sehr eindringlich.
Michał Prószyński als Tybalt, Carlos Nogueira als Benvolio, Andres Feliu als Pâris, Christoph Engel als Engel sowie David Park als Frère Jean komplettierten das berzeugende Sängerensemble. Man kann von einer sehr erfolgreich verlaufenen Premiere einer in musikalisch und szenischer Hinsicht grossartigen Produktion sprechen, welche durchaus noch mehr Bravorufe und eine vollständige stehende Ovation verdient hätte. Unbedingt hingehen!