Lucia di Lammermoor
Conductor: Riccardo Chailly
Staging, sets and costumes: Yannis Kokkos
Lights: Vinicio Cheli
Video: Eric Duranteau
Staging collaborator and dramaturgy: Anne Blancard
Enrico: Boris Pinkhasovich
Lucia: Lisette Oropesa
Edgardo: Juan Diego Flórez
Arturo: Leonardo Cortellazzi
Raimondo: Carlo Lepore
Alisa: Valentina Pluzhnikova
Normanno: Giorgio Misseri
Besuchte Vorstellung: 23. April 2023, Scala
Musik: 3,5*
Regie: 3,5*
Die Mailänder Scala präsentierte Anfang April 2023 eine auf dem Papier glanzvoll besetzte Neuproduktion von Gaetano Donizettis 1835 in Neapel uraufgeführten Belcanto-Oper «Lucia di Lammermoor». Mit ihrer an Romeo und Julia erinnernden, tieftraurigen Liebesgeschichte vor dem Hintergrund der Familienfehde zweier schottischer Clans, der zwanzigminütigen, höchste musikalische Anforderungen stellenden Wahnsinnsszene der Titelheldin und ihren effektvollen, leidenschaftlichen Ensemble-Szenen sind bei entsprechender Besetzung stets bei diesem Werk Gänsehautmomente garantiert!
Im Mittelpunkt des Interesses der aktuellen Neuproduktion stand dabei Lisette Oropesa, die die Lucia bereits an vielen großen Opernhäusern gesungen hat und damit nun auch an der Scala das Erbe grosser Rollenvorgängerinnen antrat. Bei ihrer Auftrittsarie «Regnava nel silenzio» und der Cabaletta «Quando rapito in estasi” begann die Sängerin stimmlich und darstellerisch noch verhalten, wobei die Mittellage leicht belegt klang, während Oropesa in der Höhe und in den Koloraturen die erforderliche Leichtigkeit und Sicherheit aufwies. Im zweiten Akt, ab der großen Auseinandersetzung mit ihrem Bruder Enrico, gelang es ihr dann auch, durch ihr leidenschaftliches Spiel und ihren glutvollen stimmlichen Einsatz zu begeistern, wobei sie mit ihren virtuosen Läufen, Kadenzen und Koloraturen in der ausgedehnten Wahnsinnsszene, für jene surreale musikalische Atmosphäre sorgte, für welche diese in der Opernliteratur einzigartige Szene bekannt ist.
Als ihr Geliebter, Sir Edgardo di Ravenswood konnte die Mailänder Scala für die aktuelle Premiere den peruanischen Startenor Juan Diego Florez engagieren. Dieser spielte seine Rolle mit grosser Leidenschaft und harmonierte bereits im Liebesduett des ersten Aktes bei «A miei voti invoco il ciel», bestens mit Lisette Oropesa, als die beiden Stimmen zu einer wunderschönen Einheit verschmolzen. Insgesamt hätte ich mir jedoch von Florez, dessen Tenor man seine Verankerung im Fach der Rossini-Opern weiterhin deutlich anhört, etwas mehr stimmliche Dramatik und mehr Volumen gewünscht, um als unglücklicher Edgardo zu überzeugen. So klangen die dramatischen Zuspitzungen der Turmszene «Orrida è questa notte» und die Schlussszene «Tu che a Dio spegasti l`Ali» etwas zu eindimensional, um in ihrer ganzen Tragik zu überzeugen. Bei der Besetzung von Lucias Bruder, Lord Enrico Ashton, hatte die Scala mit dem rau timbriert singenden Boris Pinkhasovich nur ein bedingt glückliches Händchen bewiesen, wobei der Bariton die Cavatine «Cruda, funesta smania» nutzte, um mächtig aufzutrumpfen. Mit warm strömenden sonoren Bass konnte dagegen Carlo Lepore als zwielichtiger und manipulativer Priester Raimondo Bidebent überzeugen, wobei seine Arie «Ah! Cedi, cedi» zu den musikalischen Highlights der Aufführung gehörte.
Ausgezeichnet hatte die Scala zudem die kleineren Partien mit Leonardo Cortelazzi (Lord Arturo Bucklaw), Valentina Pluzhnikova (Alisa) und Giorgio Misseri (Normanno) besetzt. Präzise war durch Alberto Malazzi der Chor der Mailänder Scala einstudiert wurden, wobei dieser klangprächtig die Hochzeitsfeier von Lucia und Arturo im «D`Immenso giubilo» besang, während die Einwürfe des Chores in die Wahnsinnsszene hierzu einen äusserst passenden, unheimlichen Kontrast bildeten. Am Pult des Scala Orchesters stand bei dieser Aufführung Musikdirektor Maestro Riccardo Chailly persönlich. Dabei war bereits bei den die Oper eröffnenden dumpfen Hornklängen klar, dass dies kein sanft vor sich herklingender Donizetti werden würde. So entführte das von Chailly geleitete Orchester in eine grausame, harte und unerbittliche Welt, bei der auch in den eingängigsten und liedhaftesten Melodien, die sich auftuenden menschlichen Abgründe musikalisch präsent blieben.
Die Regie und Ausstattung der aktuellen Neuinszenierung hatte der erfahrene griechische Regisseur Yannis Kokkos übernommen, dessen Arbeiten bereits vor Jahrzehnten an der Scala gezeigt wurden. Dabei waren die einzelnen Szenen unterschiedlich gut gelungen: Während der mondbeschienene scherenschnittartige Wald des ersten Aktes sehr atmosphärisch angelegt war, vermisste man in den auf dem Schloss spielenden Szenen, sowie im Turm von Wolferag ein solches Grusel-Feeling: Die Bühnenbilder, ergänzt durch die Projektionen von Eric Duranteau, waren für das aufwühlende Geschehen dieser Szenen in ihrer stilisierten Ästhetik in Teilen zu kühl geraten. Bei den schlichten Kostümen hatte sich der Regisseur hingegen dazu entschieden, die Handlung aus dem ausgehenden 16. Jahrhundert mit seinen politischen Umwälzungen, ins frühe 20. Jahrhundert zu verlegen. Warum? Wir werden es wohl nie erfahren.
Ein Mehrwert zum tieferen Verständnis der Handlung oder des meisterhaften Librettos von Salvatore Cammaranos, ergab sich durch die Zeitverlegung jedenfalls nicht. Die Inszenierung hatte jedoch insgesamt den Vorteil, die musikalischen Abläufe nicht zu stören und die Wirkung ganz auf die Auftritte der Sänger zu legen. Das ist für heutige Verhältnisse schon recht viel.
Nachdem sich Edgardo am Ende dieser Nachmittagsvorstellung auf einem angedeuteten Friedhof, neben einer düsteren Statue den Dolch ins Herz gestoßen hatte, spendete das Publikum großen Applaus für alle Beteiligen, der beim Erscheinen von Lisette Oropesa, Juan Diego Florez und Riccardo Chailly in Standing Ovations umschlug.