Guillaume Tell: Wunderbare Aufführung in St. Gallen

Guillaume Tell 26.05.2024 St.Gallen (Version 31.05.2024 um 21.21). Guillaume Tell, Gioachino Rossini (1792-1868). Grand opéra in vier Akten Libretto von Victor-Joseph Etienne de Jouy und Hippolyte Louis Florent Bis, nach dem Schauspiel Wilhelm Tell (1804) von Friedrich Schiller und der Erzählung Guillaume Tell ou La Suisse libre (1800) von Jean Pierre Claris de Florian. Musikalische Leitung: Michael Balke, Inszenierung: Julien Chavaz. Bühne: Jamie Vartan. Kostüm: Severine Besson. Licht design: Sinéad Wallace / Andreas Enzler. Leitung szenische Einstudierung: Alixe Durand Saint Guillain. Choreografie: Nicole Morel. Mitarbeit szenische Einstudierung / Abendspielleitung: Fleur Snow. Inspizienz: Ivana Aeschbacher. Choreinstudierung: Filip Paluchowski. Dramaturgie: Christina Schmidl. Guillaume Tell: Theodore Platt. Arnold Melcthal: Jonah Hoskins. Walter Furst / Melcthal: Martin Summer. Jemmy: Kali Hardwick. Gesler: Kristján Jóhannesson. Rodolphe: Christopher Sokolowski. Ruodi: Riccardo Botta. Leuthold: David Maze. Mathilde: Athanasia Zöhrer. Hedwige: Sarah Alexandra Hudarew. Ein Jäger: Andrzej Hutnik. Tanz: Laura García Aguilera / Jeanne Gumy / Federica Faini / Elenita Queiroz. Chor des Theaters St. Gallen. Opernchor St. Gallen. Sinfonieorchester St. Gallen. Besuchte Vorstellung: 26. Mai 2024, Theater St. Gallen.
Musik: 4****
Regie 4****

Die äusserst gelungene Inszenierung des Guillaume Tell vom Schweizer Julien Chavaz wurde erstmals 11 / 2022 an der «Irish National Opera» in Dublin gezeigt unddann 12 / 2023 am «théâtre équilibre fribourg» im Rahmen der «Nouvel Opéra Fribourg», der Julien Chavaz ab 2018 bis zur Übernahme derGeneralintendanz des «Theater Magdeburg» 2022vorstand.

Die Produktion wurde sowohl in Dublin als auch in Fribourg von Kritik und Publikum mit grossem Enthusiasmus aufgenommen, sodass wir uns sehr glücklich schätzen dürfen, diese Produktion nun auch am architektonisch bestechenden Theater St. Gallen zu erleben, welches nach der Renovation in neuem Glanz erstrahlt und über eine vorzügliche Akustik verfügt.

Auf den ersten Blick wirkte dieser Guillaume Tell sehr aufgeräumt und geordnet, mit einer entschlacktenBühne (fecit Jamie Vartan), welche durch drei schiffsrumpfartige Formen begrenzt war und im Hintergrund eine gezackte Linie erkennen liess, welcheeinmal in Weiss die Umrisse von Bergen darstellte, dannin Rot der Aggression der Habsburger Nachdruck verliehoder in der Sturmszene in einem grellen Neonlicht einen Blitz versinnbildlichte. Als szenisch besonders gelungenwar der 3. Akt zu werten, in welcher Gesler arrogant und selbstgefällig auf einem hohen roten Thron sass, über ihm ein riesiges, ebenfalls rotes, filigranes,wappenähnliches Gebilde, von den Schweizerneinfordernd, nicht eine Stange mit Hut, sondern eine riesige rote Schnabelmaske zu grüssen. Das Leiden der Schweizer wurde allegorisch untermalt mit einem im Libretto nicht vorgesehenen, jedoch an der Stelle sehr passenden, agoniegleichen Tanz der aus vier unheimlich maskierten Tänzerinnen bestehenden Ballettgruppe(Laura García Aguilera, Jeanne Gumy, Federica Faini, Elenita Queiroz; Choreografie: Nicole Morel). Sehr gelungen war auch der originelle Aufbau der Szene mit dem Apfelschuss. Der eigentliche Apfel führte doch zu einigem Gelächter im Saal.

Foto: Edyta Dufay
Foto: Edyta Dufay

Die Personenführung und das Bühnenspiel waren derart raffiniert gestaltet, dass sie beim Zuschauer die Neugier, was denn nun wohl als Nächstes auf der Bühne passieren würde, auslöste. Die Übereinstimmung des gesungenen Textes mit der Handlung auf der Bühne, die auf die Musik abgestimmten Bewegungen und die Gestik der Sänger und des Chores verliehen einer Situation jeweils eine besondere Intensität. Auch die farbliche Gegenüberstellung der nur vordergründig freundlichnaiv wirkenden Schweizer in beigen, schlicht gehaltenen Kostümen (fecit Severine Besson) und deraggressiv-überheblichen Habsburger in roten, teilweise überzeichneten stilisiert mittelalterlichen Kostümenschaffte einen visuell reizvollen Kontrast und fand ihre Auflösung im 4. Akt, als die Habsburgerin Mathilde, welche sich aufgrund ihrer Liebe zu Arnold Melcthal den Schweizern angeschlossen hatte, nicht mehr im roten Ballkleid, sondern im beigen Kostüm erschien.

Die Sänger waren allesamt sehr gut bis hervorragend. Theodore Platt in der Rolle des Guillaume Tell sang das «Sois immobile» herzergreifend schön, mit sicher geführtem Atem und einer hoch entwickelten Legatokultur, welche ihn für alle grossen Baritonrollen des Belcanto empfiehlt.

Als sensationell darf man die Leistung von Jonah Hoskins in der Rolle des Arnold Melcthal in seiner grossen Arie «Asile héréditaire» und in der darauffolgenden Cabaletta «Amis, amis, secondez ma vengeance» bezeichnen. Er begeisterte mit unerschöpflichen Atemreserven, vorbildlicher Legatokultur, rhythmischer Präzision, einwandfreier Intonation, einem einnehmendem Timbre und einer frei leuchtenden Höhe von Starqualität.

Die Stimme von Athanasia Zöhrer in der Rolle der Mathilde klang in der Mittellage soubrettig-leicht, mit lebhaft flackerndem Vibrato, überraschte jedoch durch eine kräftig-strahlende Höhe, welche sich mit Leichtigkeit und grossem Effekt über die Tuttistellen hinweghob. Die Schwierigkeiten des «Sombre forêt» meisterte sie problemlos, wobei die Übergänge von piano zu forte etwas brüsk erschienen. In der Arie «Pour notre amour plus d’espérance» schlug Dirigent Michael Balke ein halsbrecherisches Tempo an, sodass man bangte, ob Frau Zöhrer die Koloraturpassage unbeschadet überstehen würde. Dies tat sie mit Bravour.

Kali Hardwick, in der Rolle des Jemmy, entzückte durch ihren Spielwitz, ihre gewinnende, raumfüllendeAusstrahlung und ihre kräftig strahlende Höhe, welche alle ihre Einsätze zu einem Genuss werden liessen.Zudem bot sie eine schauspielerisch sehr glaubhafte Darstellung des Sohnes von Guillaume und Hedwige Tell, welche ihn offenkundig sehr lieb hatten.

Als Gesler spielte Kristján Jóhannesson die Rolle des Bösewichts äusserst überzeugend: In seinem roten, stilisiert mittelalterlichen Kostüm sah er sehr schneidig aus und brachte mit seinem Abgang oder eher Sturz die Treppe hinunter das Publikum zum Schmunzeln.

Sarah Alexandra Hudarew sang die Rolle der Hedwigemit berührend warm-samtiger Stimme, welche man gerne auch in anderen Rollen hören möchte, beispielsweise als Erda.

Wie eine boshaft-gemeine Elfe in rotem Kostüm agierteauf sehr unterhaltsame Weise Christopher Sokolowski in der Rolle des Rodolphe. Beim Singen verblüffte er mit einem kraftvollen Heldentenor, was seine grazil-elegante Erscheinung nicht vermuten liess. Wir sind auf die weitere Entwicklung dieses packenden Sängers gespannt.

Die starke Ensembleleistung wurde komplettiert mit Riccardo Botta als Ruodi, David Maze als Leuthold und Andrzej Hutnik als Jäger.

Bei einer Grand opéra darf das Ballett nicht fehlen, welches in St. Gallen aus vier Tänzerinnen bestand. Der Einsatz des Balletts folgte jedoch nicht dem Libretto und war schon während der Ouvertüre zu sehen. Dies war zwar unterhaltsam, stellenweise sogar humorvoll-lustig, doch eigentlich verzichtbar, da vom äusserst mitreissenden Spiel des Sinfonieorchesters St. Gallen (in Höchstform) ablenkend. In keiner Form soll dies aber die sehr gelungene, äusserst präzise auf die Musik abgestimmte Choreographie in Abrede stellen. Schade war, dass man die Tänzerinnen nicht beim «Pas de six» einsetzte. Stattdessen liess man den Chor einen dilettantischen Tanz aufführen, welcher auch einem Volkstanzverein kurz nach der Winterpause nicht zur Ehre gereicht hätte. Zudem stand die Darbietung in starkem Kontrast zum differenziert-kultivierten Spiel des Orchesters. Gesanglich war die Leistung des Chores jedoch ausgezeichnet (Choreinstudierung: Filip Paluchowski), welcher mit seinem vollen und stets transparent-kultivierten Klang zu begeistern wusste und das Publikum schon beim ersten Auftritt mit dem «Quel jour serein le ciel présage!» gewann.


Dirigent Michael Balke präsentierte eine berauschend-spannungsgeladene musikalische Deutung des Werks, tempomässig zuweilen an der oberen Grenze, aber immer detailreich, differenziert, fesselnd, sodass die vier Stunden Spielzeit erfrischend kurzweilig waren. So macht Oper Spass. Das Publikum dankte mit lautstarkem Applaus und formierte sich in Rekordzeit zu einer stehenden Ovation.

Foto: Edyta Dufay
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Christian Jaeger

REVIEWER

Christian Jaeger has a passion for the operas of 19th-century Italian composers, is always amazed at how innovative Gluck and Cherubini sound, and loves repertoire companies.

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