PHÈDRE
Tragédie lyrique von Jean-Baptiste Lemoyne (1751-1796). Libretto von François-Benoît Hoffman (1760-1828). Besuchte Vorstellung: 25. Januar 2025 (Première), Badisches Staatstheater Karlsruhe
Musikalische Leitung: Attilio Cremonesi; Inszenierung: Christoph von Bernuth; Badische Staatskapelle; Bühne und Video: Oliver Helf; Kostüme: Karine Van Hercke; Lichtdesign: Stefan Woinke; Dramaturgie: Stephanie Twiehaus; Phèdre: Ann-Beth Solvang; Oenone: Anastasiya Taratorkina; Hippolyte: Krzysztof Lachman; Thésée: KS Armin Kolarczyk; Un Grand de l’état: Oğulcan Yılmaz; Badischer Staatsopernchor
Inszenierung: 5*****
Musik: 5*****
Phèdre
Der Abend begann sehr viel versprechend, mit der gefühlt besten je gehörten Operneinführung. Die Präsentation von Dramaturgin Stephanie Twiehaus war fesselnd und didaktisch so gut aufgebaut, dass man danach bestens vorbereitet war: die Handlung liess sich mühelos nachvollziehen, die Sängerinnen und Sänger wurden in ihrer stimmlichen Vielfalt vorgestellt, die Musik schien bereits vertraut.
Die deutsche Erstaufführung von Jean-Baptiste Lemoynes Oper Phèdre am Badischen Staatstheater Karlsruhe am 25. Januar 2025 war ein beeindruckendes Ereignis, das sowohl musikalisch als auch szenisch auf ganzer Linie überzeugte.
Die Oper Phèdre, die 1786 auf Schloss Fontainebleau uraufgeführt wurde, basiert auf einem Libretto von François-Benoît Hoffmann, dem Librettisten von Cherubinis Médée, und behandelt die tragische Geschichte der Phèdre, die in unglücklicher Liebe zu ihrem Stiefsohn Hippolyte entbrannt ist. Nachdem das Werk 1814 letztmals gespielt wurde und anschliessend in Vergessenheit geriet, konnte es erst 2017 im «Müpa» in Budapest bei einer konzertanten Aufführung wieder gehört werden. Von dieser Aufführung existiert ein musikalisch wunderbarer und sehr zu empfehlender Mitschnitt auf CD – die einzige derzeit erhältliche Aufnahme der Oper. Die erste szenische Aufführung seit über 200 Jahren fand nun jedoch am 25. Januar 2025 am Badischen Staatstheater in Karlsruhe statt.
Die Inszenierung war ästhetisch äusserst ansprechend, mit wunderschönen, geschmackvollen Kostümen (Kostüme: Karine Van Hercke), die stilistisch dem 19. Jahrhundert entsprachen. Sie hätten perfekt in eine klassische Traviata-Produktion gepasst – eine Ästhetik, die man heutzutage leider nur noch selten zu sehen bekommt. Dennoch, da es sich um die erste szenische Aufführung von Phèdre seit über 200 Jahren handelte, hätten wir uns eine stärker historisch inspirierte Herangehensweise gewünscht. Besonders der Einsatz von klassischen Gewändern, bemalten Kulissen mit Küstenlandschaften, Tempelanlagen, mythischen Wäldern und wilden Naturszenen hätte eine faszinierende Atmosphäre geschaffen, die den historischen Kontext des Werks besser unterstrichen hätte. Nichtsdestotrotz waren wir dankbar, dass auf moderne Inszenierungskonzepte mit Trainingshosen und Sportschuhen verzichtet wurde. Die gewählte Optik – wenn auch unerwartet – war durchaus ästhetisch, und man gewöhnte sich schnell daran. Mit der fliessenden Handlung und der präzisen Dramaturgie (Inszenierung: Christoph von Bernuth) vermochte die Produktion schliesslich, das Publikum mitzureissen und tief zu berühren.

Auch die Szenerie (Bühne und Video: Oliver Helf) war ästhetisch und beeindruckend, mit geschicktem Einsatz der Bühnentechnik, insbesondere der Drehbühne. Je nach Ausrichtung präsentierte sie eine monumentale weisse Treppe, verschiedene Räume oder ein seitliches Gerüstskelett. Dieser stetige Wechsel passte hervorragend zum vorantreibenden Momentum der Handlung und verhinderte jeglichen Eindruck von Stillstand. Die Videodarstellung des hereinbrechenden Wassers, in perfekter Abstimmung mit der dramatischen Musik, war ungemein überwältigend. Die eher düster gehaltene Beleuchtung (Lichtdesign: Stefan Woinke) war äusserst stimmungsvoll und unterstrich die Dramatik der jeweiligen Situationen auf eindrucksvolle Weise.
Jean-Baptiste Lemoynes Musik ist atemberaubend: Phèdre besticht durch scheinbar perfekte Abstimmung zwischen Text und Musik, welche eine mitreissende Dramatik entfaltet. Zwar erinnern manche Passagen an Gluck oder Cherubini, doch die Komposition beweist eine eigene, unverwechselbare Tonsprache. Die rasche Abfolge der abwechslungsreichen Melodien hält die Dynamik der Handlung stets im Fokus. Besonders bemerkenswert sind die fliessenden Übergänge zwischen Rezitativen und Arien, die dem Werk eine moderne, beinahe durchkomponierte Wirkung verleihen. Trotz einiger solistisch brillanter Arien bleibt das Drama stets präsent, wodurch die Musik und auch die Handlung nie ins Stocken gerät. An diesem Abend hinterlässt Phèdre den Eindruck eines meisterhaft komponierten Werkes. Die packende Inszenierung, die mitreissende Musik und die dramaturgische Geschlossenheit machen deutlich, dass Phèdre zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist – und es bleibt zu hoffen, dass diese Aufführung der Beginn einer verdienten Wiederentdeckung ist.
Grossartige Mezzosopranistin Ann-Beth Solvang
Die Rolle der Phèdre ist äusserst anspruchsvoll, mit langen Szenen, innigen Phrasen und kraftvollen dramatischen Ausbrüchen, die unweigerlich an Medea erinnern und daher zweifellos auch für eine Sängerin wie Maria Callas ideal gewesen wären. In der Aufführung am Badischen Staatstheater erwies sich die Rolle jedoch als absolut grossartig für die Mezzosopranistin Ann-Beth Solvang, welche mit einer beeindruckenden darstellerischen und gesanglichen Leistung brillierte. Ihr kräftiger, schnell vibrierender Mezzosopran, welche etwas an die grosse Mezzosopranistin der 1970er Jahre, Beverly Wolff, erinnerte, verlieh der Figur eine bemerkenswerte Tiefe und Ausdruckskraft. Ihre Bühnenpräsenz war überwältigend und verlieh der tragischen Figur eine eindringliche Tiefe, die lange nachhallte. Die Darstellung von Phèdres Obsession durch eine mit „Hippolyte“-Schriftzügen verzierte Kammer erschien dabei überflüssig, da Ann-Beth Solvangs eindringliche Interpretation die Zerrissenheit und Besessenheit der Figur bereits auf beeindruckende Weise verkörperte.

Mit einem klaren, frischen Sopran und einer herausragenden schauspielerischen Leistung brachte Anastasiya Taratorkina die Vielschichtigkeit der Figur der Oenone eindrucksvoll zur Geltung. Besonders beeindruckten die kunstvoll eingebauten Koloraturen, die sie in die Wiederholungen der Passagen ihrer Arien einfliessen liess und damit sowohl technisch als auch musikalisch glänzte.
Krzysztof Lachman in der Rolle des Hippolyte überzeugte mit seinem geschmeidigen Tenore di grazia-Stimme, die durch Klarheit, Leichtigkeit und technische Präzision bestach. Sein heller, strahlender Ton verlieh seiner Darstellung eine jugendliche Frische, die perfekt zur Unschuld und Reinheit seines Charakters passte.
Die Beschwörung Neptuns durch Thésée, beeindruckend verkörpert von KS Armin Kolarczyk, wurde zu einem der kraftvollsten Höhepunkte des Abends. Mit seinem volltönenden Bariton und seiner eindringlichen Bühnenpräsenz brachte er die Zerrissenheit und Verzweiflung der Figur mit aussergewöhnlicher Intensität zum Ausdruck. Seine Stimme füllte den Raum mit einer Mischung aus Zorn und verletztem Stolz, während die musikalische und szenische Umsetzung – unterstützt durch dramatische Licht- und Schatteneffekte – die Szene zu einem unvergesslichen Moment machte. Grandios.
Oğulcan Yılmaz überzeugte als Grand de l’État mit beeindruckender Autorität und souveräner Bühnenpräsenz. Seine tiefe, resonante Stimme und klare Artikulation verliehen der Figur Würde und Tiefe, während seine Balance aus kühler Stärke und subtiler Emotionalität die Rolle facettenreich und eindringlich machte.

Der Badische Staatsopernchor unter der Leitung von Ulrich Wagner beeindruckte mit einer homogenen und kraftvollen Darbietung, die massgeblich zur atmosphärischen Dichte der Aufführung beitrug. Mit spürbarer Spielfreude verlieh der Chor der Inszenierung zusätzliche Intensität und Dynamik.
Historische Instrumente
Die Badische Staatskapelle unter der Leitung von Attilio Cremonesi spielte teilweise auf historischen Instrumenten wie Hörnern und Pauken, deren authentischer Klang markante und atmosphärische Akzente setzte. Dennoch hätte man sich entweder eine vollständig auf historischen Instrumenten basierende Besetzung oder ein durchgehend modernes Klangbild gewünscht, um die klangliche Ästhetik homogener zu gestalten. Der Auftakt, insbesondere in der Ouvertüre, wirkte anfangs etwas verhalten, fast so, als ob sich das Orchester für einen kurzen Moment finden müsste. Doch nach diesem leicht zögerlichen Start gewann die Staatskapelle rasch an Sicherheit und entfaltete im weiteren Verlauf eine wunderbar nuancierte und facettenreiche musikalische Gestaltung. Klanglich besonders berührend waren die Passagen mit den Flöten, die mit ihrer zarten Eleganz und klaren Phrasierung herausstachen.
Mit dieser herausragenden Premiere hat das Badische Staatstheater Karlsruhe eindrucksvoll bewiesen, dass Mut zur Wiederentdeckung selten gespielter Werke belohnt wird. Phèdre zeigte, wie kraftvoll Musik, Regie und Bühnenbild zusammenwirken können, um eine längst vergessene Oper in neuem Glanz erstrahlen zu lassen. Nach der beeindruckenden Aufführung feierte das Publikum die Produktion mit grossem, begeistertem Applaus und stehenden Ovationen – ein verdienter Tribut an alle Beteiligten. Dieser Abend war nicht nur ein kulturelles Highlight der aktuellen Spielzeit, sondern auch ein inspirierendes Beispiel dafür, wie Oper die Verbindung von Tradition und Innovation auf höchstem Niveau schaffen kann. Ein Abend, der Hoffnung auf weitere mutige und aussergewöhnliche Produktionen weckt. Unbedingt hingehen.